Soziales

Verwahrlost und gefährdet? Wanderausstellung zur Heimerziehung in Baden-Württemberg von 1949 bis 1975

Jürgen Treffeisen, stellvertretender Archivleiter beim Generallandesarchiv Karlsruhe, zeigt eine Ärztliche Anamnese, Befund und amtsärztliches Gutachten von Josef Weber (der Wunderheiler von Schutterwald) des Erziehungsheim Flehingen aus dem Jahr 1959.
Jürgen Treffeisen, stellvertretender Archivleiter beim Generallandesarchiv Karlsruhe, zeigt eine Ärztliche Anamnese, Befund und amtsärztliches Gutachten von Josef Weber (der Wunderheiler von Schutterwald) des Erziehungsheim Flehingen aus dem Jahr 1959.

Zwangsarbeit, systematische Demütigung und Disziplinierung durch Schläge – für viele Heimkinder gehörte in den 1950er- und 1960er-Jahren seelischer und körperlicher Missbrauch zum Alltag. Das Land Baden-Württemberg arbeitet das traurige Kapitel seit Jahren auf, unter anderem mit der Wanderausstellung des Landesarchivs „Verwahrlost und gefährdet? Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949 bis 1975“. Die solle zeigen, dass das Geschehene nicht vergessen wird, sagt Sozial- und Integrationsminister Manne Lucha. „Sie ist uns zugleich eine Mahnung, dass sich so etwas nicht wiederholen darf.“

Die Ausstellung, die im Sommer 2015 startete, macht von diesem Mittwoch an bis zum 30. März im Generallandesarchiv Karlsruhe Station. Erweitert ist sie durch Dokumente einer einzigartigen Sammlung von etwa 11.000 Schicksalen vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er-Jahre. Der noch weitgehend ungehobene Archiv-Schatz aus der Erziehungsanstalt Flehingen bei Karlsruhe umfasst rund 100 Regalmeter Zöglingsakten. „Sie dokumentieren lückenlos die Lebensumstände der Kinder in einem Jahrhundert“, sagt der Vizechef des Archivs, Jürgen Treffeisen. Eine Rarität. Andere Heimakten landeten schon mal im Müll.

Tausende der rund 800.000 Kinder und Jugendlichen in westdeutschen Heimen von Kommunen, Kirchen oder Landeswohlfahrtsverbänden litten unter seelischer und körperlicher Gewalt – auch in vielen der über 600 Einrichtungen im Südwesten. „Ein Übermaß an Gewalt war an der Tagesordnung“, weiß Sozialpädagogin Irmgard Fischer-Orthwein von der Beratungsstelle des Fonds Heimerziehung aus vielen Gesprächen mit Betroffenen. Die wollen manchmal einfach nur das Erlebte loswerden, weil sie ihre Heimvergangenheit aus Scham selbst der Familie verschwiegen haben. Die Wanderausstellung soll Betroffenen bei der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit helfen.

Nach Aufdeckung der Missstände im Zuge der Studentenbewegung wurde der Kinderschutz laut Sozialministerium verstärkt in den Blick genommen. Die große Wende erfolgte in den 1990er-Jahren mit dem neuen Kinder- und Jugendhilfegesetz. Eine effiziente Heimaufsicht, Meldepflichten, genügend qualifiziertes Personal sowie mit Jugendlichen besetzte Heimbeiräte sollen heute dafür sorgen, dass so etwas nie wieder vorkommt.

Bislang haben rund 2.000 frühere Heimkinder aus dem Südwesten Fondsleistungen erhalten

Etwas über 300 Millionen Euro haben Bund, Länder und Kirchen bundesweit für Menschen bereitgestellt, die von 1949 bis 1975 als Heimkinder Leid und Unrecht erlebt haben. Die Sachleistungen sollen den Alltag der Betroffenen erleichtern. Bezahlt werden zum Beispiel Therapien, die die Krankenkassen nicht mehr bewilligen wollen, oder ein altersgerechter Umbau der Wohnung, damit die Betroffenen nicht wieder in einem Heim leben müssen.

Der Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ wurde zum 1. Januar 2012 errichtet. Baden-Württemberg beteiligt sich nach Angaben des Sozial- und Integrationsministeriums mit 15,6 Millionen Euro, ein Drittel davon zahlen die Kommunen.

Aus dem Südwesten haben bislang rund 2.000 Betroffene Fondsleistungen erhalten. Wer bis Ende 2014 noch keine Hilfe aus dem Heimkinderfonds beantragt hat, kann keine finanziellen Mittel mehr erwarten. Beratung von den Experten des Fonds gibt es aber noch bis Ende 2018.

Quelle:

dpa
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