Gesundheit/Opferschutz

Land stärkt Opferschutz bei sexueller und häuslicher Gewalt

Eine Assistenzärztin untersucht in einem Behandlungszimmer der Gewaltambulanz Heidelberg eine Frau.

Das Land Baden-Württemberg hat  mit den Krankenkassen und der Gewaltambulanz Heidelberg einen Pilotvertrag zur verfahrensunabhängigen Beweissicherung abgeschlossen. Künftig werden die Kosten der Spurensicherung nach sexualisierter Gewalt und Misshandlung in den Fällen, in denen Betroffene zunächst keine Anzeige erstatten wollen, von den Krankenkassen getragen.

Baden-Württemberg geht einen weiteren wichtigen Schritt, um die Sicherheit und den Schutz von Opfern sexueller und häuslicher Gewalt zu stärken. Sozial- und Integrationsminister Manne Lucha hat am Donnerstag (26. Oktober) den erfolgreichen Abschluss eines wegweisenden Pilotvertrags zur verfahrensunabhängigen Beweissicherung in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen und der Gewaltambulanz Heidelberg bekannt gegeben. Damit setzt Baden-Württemberg als zweites Bundesland den Anspruch aller gesetzlich Versicherten auf eine vertrauliche Spurensicherung am Körper nach sexualisierter Gewalt und Misshandlung um. Künftig werden die Kosten der Spurensicherung beispielsweise nach Vergewaltigung, häuslicher Gewalt oder anderen Misshandlungen in den Fällen, in denen Betroffene zunächst keine Anzeige erstatten wollen, von den Krankenkassen getragen.

„Die Möglichkeit der verfahrensunabhängigen Beweissicherung stellt einen aktiven Beitrag zum Opferschutz dar. Betroffene von Gewalt erhalten die Möglichkeit, in Ruhe und mit Abstand zur Tat zu entscheiden, ob sie eine Anzeige erstatten möchten, ohne dass die Beweise für die Tat verloren gehen“, sagte Lucha in Stuttgart. Er bezeichnet die Unterzeichnung des Pilotvertrags zwischen den Krankenkassen, der Gewaltambulanz Heidelberg und dem Land als richtungsweisenden Schritt. „Scham und Angst vor Stigmatisierung und auch das ‚Nicht Glauben der Tat‘ führen immer wieder dazu, dass Betroffene die Tat nicht anzeigen und hierdurch die Spuren nicht gesichert werden. Mit der gerichtsfesten, anonymen und kostenfreien Spurensicherung erhalten die Betroffenen die Sicherheit, dass sie jederzeit die Tat zur Anzeige bringen können. Die Spurensicherung ist auch ein klares Signal an die Täter, denn das Ziel jeder Untersuchung sollte die Anzeige sein, damit die Strafbehörden tätig werden können“, betonte der Minister weiter.

Stimmen zum Vertragsabschluss

Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, betonte die Vorteile für Opfer von Gewalt durch den Pilotvertrag: „Die physische und psychische Notlage, in der sich Betroffene nach einem Übergriff befinden, macht meist handlungsunfähig. Nur wenige suchen direkt Hilfe und sind in der Lage, unmittelbar Anzeige zu erstatten. Es ist sehr wichtig und gut, dass in Heidelberg nun erstmalig ein niederschwelliger Zugang zur vertraulichen Spurensicherung für alle Betroffenen geschaffen wurde, dem weitere Standorte im Land folgen werden.“

Prof. Dr. med. Kathrin Yen, Ärztliche Direktorin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg und Gründerin der Gewaltambulanz Heidelberg: „Für viele von Gewalt Betroffene ist eine vertrauliche, rechtssichere Dokumentation der Verletzungen ein wichtiger Baustein für einen selbstentschiedenen Umgang mit der Gewalterfahrung. Dass diese Untersuchungen nun von der Krankenkasse finanziert werden, ist ein Meilenstein für die rechtsmedizinische Versorgung dieser Menschen und wird auch die Qualität von Gerichtsverfahren verbessern.“

Sozialminister Manne Lucha erläuterte weiter: „Wir haben uns für eine schrittweise Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben entschieden. Gewaltambulanzen arbeiten nach den höchsten rechtsmedizinischen Standards. Zunächst beginnen wir mit der Gewaltambulanz Heidelberg, angesiedelt am Rechtsmedizinischen Institut der Universität Heidelberg. Im nächsten Schritt werden weitere Verträge mit den bestehenden Gewaltambulanzen in Freiburg und Ulm geschlossen. Mit der Eröffnung der Gewaltambulanz Stuttgart am 23. November 2023 wird außerdem noch eine vierte Gewaltambulanz in Baden-Württemberg hinzukommen.“

Meilenstein im Opferschutz in Baden-Württemberg

Die drei Gewaltambulanzen in Baden-Württemberg bieten allen Gewaltopfern bereits jetzt eine umgehende rechtsmedizinische Untersuchung, eine gerichtsfeste Dokumentation von Verletzungen, eine Spurensicherung sowie weitere Hilfeleistungen bei Bedarf. Sie stehen allen Geschlechtern vom Säugling bis zum hoch betagten Menschen und allen Opfern von Gewalt und Misshandlung offen. Zwar sind Frauen überproportional von sexualisierter und häuslicher Gewalt betroffen, dennoch erleben auch Männer und queere Menschen Gewalt.

„Mit der Möglichkeit, die Untersuchungen und Archivierungen auch in entsprechend qualifizierten Kooperationskrankenhäusern durchzuführen, soll langfristig sichergestellt werden, dass auch in den Stadt- und Landkreisen, in denen keine Institute der Rechtsmedizin vorhanden sind, eine Versorgung stattfinden kann“, so Lucha abschließend.

Das Land stellt derzeit jährlich rund 520.000 Euro für die bestehenden Gewaltambulanzen bereit. Die Unterzeichnung des Pilotvertrags markiert einen Meilenstein im Opferschutz in Baden-Württemberg und gilt als wegweisender Schritt zur Stärkung der Rechte und des Schutzes von Gewaltopfern.

Ergänzende Informationen

„Verfahrensunabhängige Beweissicherung“ beziehungsweise „vertrauliche Spurensicherung“ sind Begriffe, die vor allem im Zusammenhang mit sexueller oder häuslicher Gewalt sowie Kindesmisshandlung und -missbrauch verwendet werden und sich darauf beziehen, Beweise vom beziehungsweise am Körper des Opfers zu sammeln und zu bewahren, unabhängig von einem Ermittlungsverfahren oder der Entscheidung, eine Anzeige zu erstatten. Eine gesetzliche Grundlage für Angebote zur vertraulichen Spurensicherung wurde im Jahr 2020 im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen. Allerdings wurde die Klärung von Detailfragen auf die Länder und die Kostenträger verlagert.

Bei Fällen von sexuellem Missbrauch oder häuslicher Gewalt stehen Opfer oft vor emotionalen Traumata, Angst und Unsicherheit darüber, ob sie das Verbrechen bei den Strafverfolgungsbehörden melden sollen. Viele Opfer zögern, an die Öffentlichkeit zu gehen, aus Angst vor Stigmatisierung, Rache oder Zweifeln daran, dass ihnen geglaubt wird. Dieses Zögern kann dazu führen, dass wichtige Beweise im Laufe der Zeit verloren gehen oder beeinträchtigt werden, was es schwierig macht, später rechtliche Schritte einzuleiten, falls sich das Opfer dazu entscheidet. Wichtig ist, dass die rechtsmedizinische Untersuchung möglichst ohne zeitlichen Verzug nach einer Gewalttat erfolgt, da nur so eine vollständige Sicherung von Spuren und eine Dokumentation der erlittenen Verletzungen vor deren Abheilen möglich ist.

Nach dem Abschluss des Pilotvertrags bereiten das Land und die weiteren Vertragspartner Verträge mit den bestehenden Gewaltambulanzen an den Universitäten in Freiburg und Ulm vor. Im Anschluss ist der schrittweise Aufbau einer flächendeckenden Versorgung in Baden-Württemberg durch ein Netzwerk von Kooperationskrankenhäusern geplant.