Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer warnte bei der Jahrestagung der Sozial- und Arbeitsmedizinischen Akademie Baden-Württemberg e. V. (SAMA) vor digitaler Demenz und den gesellschaftlichen Folgen. Mehr als 250.000 der Vierzehn- bis Vierundzwanzigjährigen seien bereits internetabhängig. Auch Sozialministerin Katrin Altpeter zeigt sich besorgt darüber, dass bereits bei Kindern pathologischer Computer- und Internetgebrauch festgestellt wird. SAMA-Vorstandsvorsitzender Hubert Seiter sieht die Renten- und Krankenversicherung gefordert, vorhandene Präventions- und Rehabilitationsleistungen offensiv anzubieten.
Bei der diesjährigen Kuratoriumssitzung der SAMA in Stuttgart-Freiberg stand der Vortrag des bekannten Hirnforschers, Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, im Mittelpunkt. Er sprach über die langfristigen Folgen des Konsums neuer Medien durch Kinder und Jugendliche. Die SAMA-Kuratoriumsvorsitzende und baden-württembergische Sozialministerin Katrin Altpeter konnte dazu über 200 Gäste aus Renten- und Krankenversicherung, von Verbänden im Gesundheitswesen, von Rehabilitationseinrichtungen, Ärzte und Psychotherapeuten sowie Vertreter von Schulen und junge Menschen begrüßen. In ihrem Grußwort sagte sie, dass sich beim Thema Internetkonsum Fragen über die Entstehung einer Sucht und die Abgrenzung von normalem Gebrauch mehren. Darüber hinaus zeige sich besonders bei Jugendlichen das Problem, wie man vor exzessivem Computer- und Internetgebrauch stärker schützen könne. Dies sei sehr wichtig, um Kinder und Jugendliche vor Vereinsamung, zusätzlichem Stress und schulischem Leistungsabfall zu bewahren.
Computer- und Internetsucht steigen dramatisch an
In seinem Vortrag setzte sich Prof. Spitzer mit der digitalen Demenz von jungen Menschen und die damit verbundene sozialmedizinische Herausforderung auseinander. Die Zahlen sind alarmierend: Laut Jahresbericht der Suchtbeauftragten der Bundesregierung (veröffentlicht 2012) gelten etwa 250 000 der Vierzehn- bis Vierundzwanzigjährigen als internetabhängig und rund 1,4 Millionen als problematische Internetnutzer. Damit ist bereits jeder sechste in dieser Altersgruppe stark gefährdet. Digitale Medien - das sind Computer, Smartphones, Spielkonsolen und das Fernsehen – verändern nach den Erkenntnissen von Prof. Spitzer unser Leben.
Seiner Meinung nach können sie rasant süchtig machen und den Schlaf rauben. Sie nehmen den Menschen geistige Arbeit ab und sind deswegen zur Förderung des Lernens im Bildungsbereich ungeeignet. Vergleichbar mit anderen Süchten bleiben sie länger im Verborgenen und sind schwerer erkennbar.
Aus wissenschaftlichen Studien weiß man, dass digitale Medien in Abhängigkeit von der Dosis und dem Lebensalter schaden. „Es gehört zu den wichtigsten Erkenntnissen der Neurowissenschaft der letzten Jahrzehnte, dass das Gehirn dynamischer und flexibler ist als ein Muskel, der sich ebenfalls durch Beanspruchung bildet“, führte Prof. Spitzer aus. So bilde sich das Gehirn durch Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Erleben, Entscheiden und Handeln.
Als Umkehrschluss gelte: „Das Gehirn schrumpft, wenn es weniger zu tun hat“. Symptome digitaler Demenz sind nach Spitzer die zunehmende Unfähigkeit sich zu orientieren mit den Folgen sozialer Abstieg, Vereinsamung, Depression. Deshalb müsse sich die Gesellschaft damit befassen, was man tun kann und tun sollte.
Ministerin Altpeter betonte, es gebe beim Internetgebrauch und der Problematik, wann ein normaler Gebrauch in eine pathologische Nutzung und schließlich in eine Sucht umschlage, noch viele klärungsbedürftige Fragen. Beispielsweise wann und warum hier bei manchen Betroffenen eine Sucht entsteht und bei anderen nicht. Auch wie diese behandelt werden könne sei wissenschaftlich noch nicht geklärt. Die Beantwortung dieser Fragen lasse auch wichtige Rückschlüsse auf Präventionsansätze zu. Zentral sei es vor allem, Kinder und Jugendliche zu einem verantwortungsvollen Gebrauch der neuen Medien zu befähigen. Diese seien selbstverständlicher Teil unseres Privat- und Berufslebens, so dass erlernt werden müsse, wie man damit umgehe ohne davon krank oder süchtig zu werden.
SWR1-Moderator und Redakteur Michael Lehmann berichtete von seinen Erfahrungen als Dozent an der Universität, wo er ein Semester lang zum Thema „Macht Internet süchtig“ recherchierte und mit Studenten diskutierte.
Sozialmedizin zielt darauf ab, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern
Zu der Veranstaltung eingeladen hatte die 1977 von Rentenversicherung und Universität Ulm gegründete, gemeinnützige SAMA. Mit Bildungsangeboten und der Bereitstellung von Informationen qualifiziert sie vorrangig Ärzte und medizinisches Fachpersonal. Der Akademie gehe es nicht nur darum, Ärzte und Sozialmedizin zu qualifizieren. Sie will vor allem auch aktuelle Themen aufgreifen, hierüber mit den Sozialversicherungsträgern und der Politik diskutieren und Lösungsansätze erarbeiten. „Als Geschäftsführer der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg erlebe ich aktuell eine steigende Nachfrage nach Rehabilitationsmaßnahmen für junge, bereits süchtige Menschen. Die heutige Veranstaltung hat eindrucksvoll gezeigt, dass wir gut beraten sind, noch mehr in Rehakonzepte und Entwöhnungsmaßnahmen für betroffene junge Menschen zu investieren“, resümierte Seiter.