Auf ihrem 67. Treffen am 11. und 12. April in Stuttgart haben die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern heute die „Stuttgarter Erklärung“ einstimmig verabschiedet. In dieser fordern sie von Bund, Ländern und Kommunen verstärkte Anstrengungen, um die Umsetzung der Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention unter Beachtung der Empfehlungen des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen entschlossen voranzutreiben.
Aus Anlass des 15-jährigen Jubiläums der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und der zweiten Staatenprüfung Deutschlands im August 2023 vor dem UN-Fachausschuss in Genf stand das 67.Treffen der Konferenz der Beauftragten von Bund und Ländern für die Belange von Menschen mit Behinderungen unter dem Motto „15 Jahre nach Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention: Endlich konsequente Umsetzung!“. Der Fokus des Treffens lag auf den Themen Wohnen, Gewaltschutz, Ablehnung von Zwang sowie der Sicherstellung von Partizipation auf allen staatlichen, politischen und gesellschaftlichen Ebenen. Zu den weiteren, in der Staatenprüfung behandelten, Themen verweisen die Beauftragten auf ihre Positionspapiere, insbesondere zu den Themenbereichen Arbeit (Erfurter Erklärung für einen inklusiven Arbeitsmarkt, November 2022 (PDF)) und Bildung (Positionspapier zur inklusiven schulischen Bildung, Dezember 2022 (PDF)). Sie sehen sich in ihren Forderungen durch die 2. Staatenprüfung bestätigt und bekräftigen diese ausdrücklich.
Verstärkte Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen gefordert
An der Tagung, zu der Baden-Württembergs Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Simone Fischer, eingeladen hatte, nahmen Expertinnen und Experten sowie hochrangige Gäste teil. Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Landtagspräsidentin Muhterem Aras sprachen Grußworte, Staatssekretärin Dr. Ute Leidig tauschte sich mit den Beauftragten aus Bund und Ländern aus.
Simone Fischer, Beauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg für die Belange von Menschen mit Behinderungen: „Deutschland ist mit der Ratifizierung der UN-BRK 2009 eine Verpflichtung eingegangen. Die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind nicht verhandelbar. Zwar wurden sie in den vergangenen 15 Jahren gestärkt, allerdings bleibt Deutschland bei der praktischen Umsetzung der UN-BRK hinter den Erwartungen und seinen Möglichkeiten. Das Ziel einer inklusiven Gesellschaft ist noch nicht erreicht. Bund, Länder und Kommunen müssen sich dafür einsetzen, dass die Voraussetzungen weiter verbessert werden und Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt in der Gesellschaft teilhaben können. Sie haben einen Anspruch und müssen sich darauf verlassen können, dass alle zum Gelingen beitragen und entschlossen daran arbeiten.“
Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen: „Sowohl der Bund als auch die Länder haben die UN-BRK vor 15 Jahren ratifiziert und sich zu ihrer Umsetzung verpflichtet - nun habe ich den Eindruck, dass manchem in Deutschland der lange Atem, den es für die Inklusion braucht, schon auszugehen droht. Zwar hatte die Ampelkoalition zu Beginn der Legislaturperiode einen vielversprechenden Koalitionsvertrag vorgelegt, in dem viel Barrierefreiheit und Inklusion stecken, aber umgesetzt sind diese Vorhaben noch lange nicht! Dass wir davon weit entfernt sind, hat uns die deutliche Kritik des Fachausschusses der Vereinten Nationen an unserer Umsetzung der UN-BRK sehr deutlich gemacht Die Konvention ist nicht verhandelbar, sie ist geltendes Recht. Inklusion ist ein Menschenrecht und Barrierefreiheit ist ein Qualitätsmerkmal für ein modernes und demokratisches Land.“
Stuttgarter Erklärung
Die Beauftragten fordern in ihrer „Stuttgarter Erklärung“ insbesondere:
- Recht auf selbstbestimmtes Wohnen (Art. 19 UN-BRK): Fast die Hälfte aller Menschen mit Behinderungen in Deutschland, die Leistungen zum Wohnen beziehen, leben in Sondereinrichtungen. Menschen mit Behinderungen müssen selbst entscheiden können, wie, wo und mit wem sie leben wollen. Dazu gehört ein ausreichendes Angebot an barrierefreiem und bezahlbarem Wohnraum sowie die Weiterentwicklung von ambulanten Unterstützungsangeboten. Der notwendige systemische Wandel zu dezentralen, individuellen Wohnformen, insbesondere für Menschen mit hohem Assistenzbedarf, muss konsequent vorangebracht werden.
- Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit, Schutz vor Gewalt und Missbrauch (Art. 14, 16, 17 UN-BRK): Die Gewaltprävalenz gegen Menschen mit Behinderungen ist besorgniserregend. Es bedarf einer ressortübergreifenden, praxisgerechten und wirksamen Gewaltschutzstrategie, die den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen Rechnung trägt. Der Schutz muss intersektional sein und Lücken im Gewaltschutz, in der eigenen Häuslichkeit wie in Institutionen zeitnah schließen. Der Bund wird aufgefordert, das Gewaltschutzgesetz noch in dieser Legislaturperiode zu reformieren.
- Ablehnung von Zwang (Art. 12, 14, 15, 16 UN-BRK): Alle Menschen haben ein Recht auf ein Leben frei von Zwang. Menschen mit Behinderungen, insbesondere mit psychosozialen Beeinträchtigungen und hohem Assistenzbedarf, sind in höherem Maße verschiedenen Formen von Zwang ausgesetzt, z.B. unfreiwillige Behandlung oder Unterbringung sowie freiheitsentziehende Maßnahmen, die erhebliche Eingriffe in die körperliche und seelische Autonomie darstellen. Gesetze, die die Anwendung von Zwang und Freiheitsentzug, in der Psychiatrie, Eingliederungshilfe und Kinder- und Jugendhilfe vorsehen, müssen in Einklang mit den menschenrechtsbasierten Bestimmungen der UN-BRK gebracht werden.
- Partizipation auf allen staatlichen Ebenen: Menschen mit Behinderungen müssen an allen politischen Entscheidungen, die sie betreffen, von Beginn an beteiligt werden. Die Umsetzung in der Verwaltungspraxis und Gesetzgebung ist noch nicht ausreichend gewährleistet und dadurch unzulänglich. Die Beteiligungsstrukturen und Rahmenbedingungen der Beteiligung müssen weiterentwickelt, verbindlich geregelt und eingehalten werden.
Die Beauftragten sind der Auffassung, dass es verstärkter Anstrengungen für die zielgerichtete Umsetzung der UN-BRK bedarf. Deutschland bleibe trotz positiver Entwicklungen hinter den Zielen und Möglichkeiten bei der Umsetzung der UN-BRK deutlich zurück. Sie fordern von Bund, Ländern und Kommunen die zielgerichtete Umsetzung der UN-BRK unter der Berücksichtigung der Ergebnisse der zweiten Staatenprüfung.
Die Erklärung erscheint in Kürze auch in einfacher Sprache auf der Internetseite der Landesbehindertenbeauftragten.
Hintergrund
Am 11. und 12. April 2024 kam die Konferenz der Beauftragten von Bund und Ländern für Menschen mit Behinderungen zu ihrem 67. Treffen in Stuttgart zusammen. Die Treffen finden zweimal jährlich statt und dienen der Beratung aktueller behindertenpolitischer Themen. Die Beauftragten von Bund und Ländern setzen sich für eine an den Menschenrechten orientierte Umsetzung der UN-BRK ein.
Am 26. März 2009 hat Deutschland die UN-BRK ratifiziert und als geltendes Recht anerkannt. Sie hat den Rang eines Bundesgesetzes. Bund, Länder und Kommunen sind verpflichtet, angemessene Vorkehrungen zu schaffen, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt und selbstbestimmt teilhaben und die Gesellschaft mitgestalten können.
Im Jahr 2015 fand die erste Staatenprüfung Deutschlands vor dem UN-Fachausschuss in Genf statt. Am 29. und 30. August 2023 wurde erneut geprüft, wie die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Deutschland im Sinne der UN-BRK umgesetzt werden. Am 3. Oktober 2023 veröffentlichte der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf seine „Abschließenden Bemerkungen“ mit Forderungen und Empfehlungen für die weitere Umsetzung der UN-BRK in Deutschland.
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Quelle:
Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen