Bei der Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus in Grafeneck rief Sozialministerin Katrin Altpeter die mehr als 10.000 kranken und behinderten Menschen in Erinnerung, die hier systematisch umgebracht wurden. „Wir müssen die Erinnerung an sie wach halten und dem Vergessen entgegentreten. So geben wir den Opfern die Würde zurück, die ihre Mörder ihnen nehmen wollten“, sagte Altpeter.
Die Gesellschaft sei es den Opfern schuldig, danach zu fragen, wie es möglich war, dass wehrlose Menschen zu tausenden brutal ermordet wurden. Altpeter stellte fest: „Der Massenmord von Grafeneck war das Werk von planvoll und kühl handelnden Medizinal-, Polizei- und Verwaltungsbeamten.“ Die Anmaßung, das Lebensrecht eines Menschen von seiner Nützlichkeit abhängig zu machen, sei eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass sich die komplette Verwaltung widerspruchslos an der systematischen Tötungsaktion beteiligte, so Altpeter.
Zudem seien Menschen zu willigen Tätern geworden, weil sie aus Überzeugung oder weil sie Karriere machen wollten, bereit waren, diese Ideologie bis zur schrecklichsten Konsequenz umzusetzen. Daher sei es umso wichtiger, sich mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen.
„Grafeneck stand am Anfang eines Weges, der direkt nach Ausschwitz und in die anderen Vernichtungslager des Holocaust führte. Wir müssen uns deshalb die Frage stellen, wie der Staat, wie die Verwaltung, mit der Vergangenheit umgeht.“ Die Einrichtungen der Behindertenhilfe und die Zentren für Psychiatrie, aus denen die Opfer stammten, würden sich ihrer Vergangenheit stellen. „Hier können sich staatliche Institutionen ein Beispiel nehmen“, so Altpeter.
Typisch für die Täter von Grafeneck und der gesamten T4-Aktion seien Männer wie der damalige Leiter der Gesundheitsabteilung des württembergischen Innenministeriums gewesen. „Der Arzt und Ministerialrat Eugen Stähle nahm bei der Planung und Durchführung der Grafenecker Morde eine Schlüsselrolle ein“, schilderte Altpeter. Wie so viele andere habe er aber nach dem Krieg versucht, seine persönliche Verantwortung für die Verbrechen zu leugnen. „Er zog sich auf seine Rolle als Beamter und Befehlsempfänger zurück.“ Ebenso widerspruchslos habe sich Otto Mauthe, der Stellvertreter Stähles in der Gesundheitsabteilung, in den Dienst der Mordaktion gestellt.
Der damalige ärztliche Leiter Grafenecks, Horst Schumann, habe das Nazi-Regime als Chance gesehen, beruflich Karriere zu machen. Als die Planer der T 4-Aktion nach Personal für die Tötungsaktionen suchten, sei ihr Blick früh auf den ehrgeizigen damals 34jährigen Arzt gefallen. „Es war der Beginn einer schrecklichen Karriere, an dessen Ende er Lagerarzt in Auschwitz-Birkenau war“, sagte die Ministerin. „Keiner der genannten Täter musste sich im Nachkriegsdeutschland wirklich verantworten.“ Stähle starb 1948 in Untersuchungshaft, Mauthe wurde zwar zu fünf Jahren Gefängnisstrafe verurteilt, die er aus gesundheitlichen Gründen jedoch nicht antreten musste und Schumann wurde erst 1970 der Prozess gemacht, der wegen Verhandlungsunfähigkeit 1971 vorläufig eingestellt wurde. 1972 wurde er aus der Haft entlassen.
Altpeter: „Demokratie braucht Menschen die konsequent einschreiten, wenn Unrecht geschieht. Mit Blick auf die Gegenwart betone ich aber auch: Eine Demokratie braucht einen Staat, der dem Treiben von neonazistischen Terroristen entschlossen entgegentritt. Wir alle müssen hinschauen, wenn unsere Demokratie angegriffen und Menschen das Lebensrecht abgesprochen wird.“
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Mit den Transporten in die Vernichtungsstätte Grafeneck begann die systematische und im industriellen Maßstab angelegte Ermordung von Menschen im nationalsozialistischen Deutschland. Grafeneck war jedoch nur der Anfang. Mehr als 70.000 Menschen aus Heil- und Pflegeanstalten wurden zwischen Januar 1940 und August 1941 bis zur Einstellung der Aktion T4 in sechs Vernichtungsstätten auf deutschem Reichsgebiet mit Gas ermordet (in der Berliner Tiergartenstraße 4 wurde diese Mordaktion geplant. Sie erhielt nach dem Krieg deshalb die Bezeichnung T4). Insgesamt wurden von den Nazis fast 200.000 wehrlose Menschen in den Gaskammern umgebracht, weil ihr Leben als „lebensunwert“ galt.
Seit 1996 wird jedes Jahr am 27. Januar bundesweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Dieser Tag ist der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1945. Zum Gedenken an die Opfer werden von den Zentren für Psychiatrie und anderen psychiatrischen Krankenhäusern im Land regionale Veranstaltungen durchgeführt. Folgende Veranstaltungen sind geplant (soweit bekannt):
Im ZfP Südwürttemberg Zwiefalten wird im Casino ab 9:30 Uhr eine Gedenkfeier veranstaltet mit einem Vortrag „Zur sogenannten Euthanasie in Südwürttemberg: Die Situation in Zwiefalten“ von Dr. Thomas Müller, Leiter des Fachbereichs Bildung und Wissen, ZfP Südwürttemberg. Ab 10:30 Uhr wird in Grafeneck Thomas Stöckle M.A., Leiter der Gedenkstätte Grafeneck einen Vortrag „Die Täter von Grafeneck 1940 – Ganz gewöhnliche Deutsche?“ halten. Um 11 Uhr erfolgt der Besuch der Gedenkstätte mit Schweigeminute, danach eine Ansprache von Katrin Altpeter, Ministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren Baden-Württemberg.
Im Zentrum für Psychiatrie Reichenau hält Dr. phil. Arnulf Moser, bekannter Historiker aus Konstanz, von 10:30 bis 12 Uhr im Hörsaal im Haus 20 einen Vortrag zu dem Thema „Erbgesundheitsgesetz und Zwangssterilisationen in Baden von 1933 bis 1945“, anschließend wird es einen kleinen Empfang geben. Im Anschluss daran erfolgt eine Kranzniederlegung am Mahnmal vor Haus 20.
Die Stadt Wiesloch, das Psychiatrische Zentrum Nordbaden, Kirchenvertreter und Schülerinnen und Schüler verschiedener Wieslocher Schulen laden zum Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ein in die Laurentiuskirche in Wiesloch, Veranstaltungsbeginn 19 Uhr.
Im Klinikum am Weissenhof wird ab 16 Uhr im Rahmen einer Gedenkfeier Pfarrer Hans-Ulrich Dapp aus Tübingen einen Vortrag halten mit dem Thema: „Gedenken an die Euthanasieopfer als konkrete Erinnerung an einzelne Kranke am Beispiel von „Emma Z“. Hans-Ulrich Dapp ist Autor des gleichnamigen Buches.
Das Klinikum Schloß Winnenden führt um 18 Uhr im Festsaal im Rahmen einer Gedenkveranstaltung den Film „Himmel und Mehr“ vor. Der Film gibt Einblicke in das Leben von Dorothea Buck, die mit neunzehn Jahren an Schizophrenie erkrankte und in Bethel zwangssterilisiert wurde. Dorothea Buck war und ist maßgeblich in der Bewegung der Psychiatrie-Erfahrenen aktiv, die sich Ende der 1980er Jahre zu formieren begann.
Zu Gast ist Alexandra Pohlmeier. Sie ist Autorin, Regisseurin und Produzentin des Films. Dr. Martin-Eitel Müller, Chefarzt a. D. des Klinikums, gibt Einblicke in den geschichtlichen Rahmen und steht gemeinsam mit den beiden Krankenhausseelsorgern Thomas Rabus und Hermann Mezler für Fragen und Diskussion zur Verfügung. Im Anschluss wird zu einem stillen Gedenken mit Kerzen am Mahnmal eingeladen.
Quelle:
Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren