Für die Aufklärung von Verbrechen und die strafrechtliche Verfolgung der Täter ist eine frühe, rechtsmedizinische Beweissicherung von immenser Bedeutung. Auf Einladung des Ministeriums für Soziales und Integration und des Universitätsklinikums Heidelberg haben hochkarätige Expertinnen und Experten aus Rechtsmedizin, Justiz, Polizei und kommunalem Opferschutz in Stuttgart über die medizinische Versorgung von Gewaltopfern in Baden-Württemberg diskutiert.
Gewalt ist nach wie vor eine traurige und erschreckende gesellschaftliche Realität: So verzeichnet die bundesweite Polizeiliche Kriminalstatistik beispielsweise für das Jahr 2018 mehr als 9.200 sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen sowie 12.000 Sexualstrafdelikte alleine an Kindern. Für die Aufklärung von Verbrechen und die strafrechtliche Verfolgung der Täter ist eine frühe, rechtsmedizinische Beweissicherung von immenser Bedeutung – beweisen zu können, was sich tatsächlich zugetragen hat, kann eine große Entlastung der Opfer während des Verfahrens bedeuten.
Genau an dieser Stelle setzte der Fachkongress „Die medizinische Versorgung von Gewaltopfern in Baden-Württemberg – Gegenwart und Zukunft“ an. Am Mittwoch (20. November) diskutierten im Stuttgarter Neuen Schloss hochkarätige Expertinnen und Experten aus Rechtsmedizin, Justiz, Polizei und kommunalem Opferschutz Themen wie: Welche Ansätze und weiteren Planungen gibt es in Baden-Württemberg? Wie können die Vorgaben der sogenannten Istanbul-Konvention umgesetzt werden? Was können die Kommunen zur Versorgung von Gewaltopfern tun? Welche neuen Möglichkeiten ergeben sich aus der Forschung?
Um sowohl das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, die sogenannte Istanbul-Konvention, umzusetzen als auch den aktiven Kinderschutz in Baden-Württemberg weiter voranzubringen, fördert das Ministerium für Soziales und Integration den interdisziplinären Austausch und hat das Institut für Rechts- und Verkehrsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg mit der Ausrichtung des Kongresses beauftragt.
Versorgung von Gewaltopfern nachhaltig verbessern
„Mit dem Fachkongress wollen wir die Versorgung von Gewaltopfern durch die Vernetzung aller beteiligten Professionen nachhaltig verbessern und bestehende, gute Strukturen im Land weiter bekanntmachen. Unser vorrangiges Ziel muss es sein, dass Gewaltopfer wissen, dass sie eine medizinische Versorgung in Anspruch nehmen können, und dass es die Möglichkeit gibt, die Spuren – auch ohne Anzeige – gerichtsfest sichern zu lassen“, sagte die Staatssekretärin im Ministerium für Soziales und Integration, Bärbl Mielich. Ausdrücklich begrüßte sie den Vorstoß von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, dass die gesetzlichen Krankenkassen künftig die Kosten für die vertrauliche Spurensicherung bei sexualisierter Gewalt übernehmen sollen – auch ohne Anzeige der Betroffenen bei der Polizei.
Objektive Beweise durch fachgerechte Spurensicherung und Dokumentation von Verletzungen
„Die medizinische Versorgung der Gewaltopfer, insbesondere durch forensisch geschulte Ärztinnen und Ärzte, ist von entscheidender Bedeutung“, betonte Prof. Dr. Kathrin Yen, Ärztliche Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg und Organisatorin des Kongresses. „Das Schaffen von Klarheit ist immer der erste Schritt: Insbesondere die fachgerechte rechtsmedizinische Spurensicherung und Dokumentation von Verletzungen während der Erstversorgung der Opfer kann objektive Beweise liefern und verschafft den Betroffenen höhere Rechtssicherheit.“ Zudem könnten traumatisierten Opfern auf diese Weise später belastende Befragungen oft erspart werden, wenn die Beweislage eindeutig sei. Ein weiterer, nicht weniger wichtiger Vorteil einer frühzeitigen Klärung der Tatsachen sei, dass gefährdete Personen – zum Beispiel misshandelte Kinder oder Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind – erkannt würden und geeignete Schutzmaßnahmen getroffen werden könnten. „Leider ist speziell diese medizinische Versorgung von Gewaltopfern, die eine Beweissicherung beinhaltet, in Baden-Württemberg und deutschlandweit noch nicht flächendeckend verfügbar“, so Yen. Sie leitet die 2011 eröffnete Gewaltambulanz am Universitätsklinikum Heidelberg, Anlaufstelle für jährlich bis zu rund 500 Betroffene, denen Gewalt widerfahren ist.
Unterstützung per Videokonferenz: Neue Konzepte gegen den Mangel an Rechtsmedizinern
Nach Auskunft Yens gibt es in Deutschland nicht genügend Rechtsmedizinerinnen und Rechtsmediziner, um Gewaltambulanzen nach Heidelberger Vorbild in ausreichender Zahl zu etablieren. Ideen für innovative Konzepte gebe es bereits, wie beispielsweise an der Schlaganfallversorgung orientierte telemedizinische Kooperationen von rechtsmedizinischen Instituten mit geschulten Klinikärztinnen und -ärzten.
Wichtig für den Opferschutz und die Gewaltprävention – darin waren sich die Teilnehmenden des Kongresses einig – sind tragfähige Kooperationen zwischen Kliniken, niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, Polizei, Justiz, Kinder- und Jugendamt sowie Kommunen in Form von engmaschigen Netzwerken und Runden Tischen. Vieles davon gibt es bereits oder befindet sich im Aufbau. „Solange nicht alle Gewaltopfer unkomplizierten und vor allem auch niederschwelligen Zugang zu geeigneten Anlaufstellen und Hilfsangeboten haben, dürfen wir in unseren Anstrengungen nicht nachlassen“, forderte die Rechtsmedizinerin Yen.
Ergänzende Informationen
Am 12. Oktober 2017 ratifizierte Deutschland das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt" – auch bekannt als Istanbul-Konvention. Es verpflichtete sich damit rechtlich verbindlich, Strukturen zu schaffen, um insbesondere Frauen und Kinder besser vor Diskriminierung und Gewalt zu schützen, Opfer zu unterstützen und eine effektive Strafverfolgung zu ermöglichen. Das Sozial- und Integrationsministerium fördert die Gewaltambulanz Heidelberg mit jährlich 150.000 Euro. Dort erhalten Gewaltopfer rund um die Uhr eine umgehende rechtsmedizinische Untersuchung, eine gerichtsfeste Dokumentation von Verletzungen und eine Spurensicherung sowie weitere Hilfeleistungen bei Bedarf.
Gewalttaten können sowohl von den Opfern selbst und Ärztinnen und Ärzten aller Fachrichtungen als auch von der Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten, von Opferhilfe-Einrichtungen und Jugendämtern gemeldet werden. Die Rechtsmedizinerinnen und Rechtsmediziner beurteilen dann beispielsweise bei Verdacht auf häusliche Gewalt, Kindesmisshandlung, Kindesmissbrauch oder Gewalt an älteren Menschen die Verletzungen und rekonstruieren die Ursache: Können die Blutergüsse tatsächlich von einem Sturz herrühren, oder wurde die Person geschlagen? Wie war der Ablauf des Ereignisses? Was hat zu den Verletzungen geführt, und sind die Spuren und Befunde vereinbar mit den berichteten Fallumständen? Die beim Fachkongress vorgestellte Heidelberger Gewaltambulanz ist in dieser Form noch einzigartig in Baden-Württemberg, am Universitätsklinikum Freiburg gibt es ein beschränkteres entsprechendes Angebot. Rund 30 weitere Klinken im Land bieten die verfahrensunabhängige bzw. vertrauliche Beweissicherung an.
Gewaltambulanz am Universitätsklinikum Heidelberg
Bilder der Veranstaltung stehen in der Mediathek zur Verfügung.