Abschlussveranstaltung

Umfangreicher Bericht zur Aufarbeitung der Heimerziehung in Baden-Württemberg vorgestellt

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Von links: Irmgard Fischer-Orthwein (Anlauf- und Beratungsstelle Heimerziehung), Minister Manne Lucha, Kristin Schwarz (Verbandsdirektorin des Kommunalverbands für Jugend und Soziales) und Willy Dorn (Vertreter der Betroffenen)
Großer Andrang zur zentralen Abschlussveranstaltung im Haus der Wirtschaft in Stuttgart
Sozial- und Integrationsminister Manne Lucha begrüßte die anwesenden Gäste.
Prof. Dr. Ulrike Zöller, Beiratsvorsitzende der Anlauf- und Beratungsstelle Heimerziehung 1949-1975 Baden-Württemberg
Prof. Dr. Birgit Meyer, Beiratsvorsitzende der Anlauf- und Beratungsstelle Heimerziehung 1949-1975 Baden-Württemberg
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Thiersch
Wanderausstellung „Verwahrlost und gefährdet? Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975“ des Landesarchiv Baden-Württemberg
Wanderausstellung „Verwahrlost und gefährdet? Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975“ des Landesarchiv Baden-Württemberg
Pressegespräch zur zentralen Abschlussveranstaltung der Arbeit der Anlauf- und Beratungsstelle „Heimerziehung 1949-1975 Baden-Württemberg“ in Stuttgart

Seit dem Jahr 2012 meldeten sich mehr als 2.400 ehemalige Heimkinder haben bei der Anlauf- und Beratungsstelle „Heimerziehung 1949-1975 Baden-Württemberg“, um von ihren schrecklichen Erfahrungen zu berichten. Die Ergebnisse aus der intensiven Aufarbeitung wurden zu einem umfangreichen Bericht zusammengefasst, der nun in Stuttgart in Anwesenheit mehrerer hundert Betroffener der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Sie haben schlimmstes Leid erfahren durch jene Menschen, die sie eigentlich hätten beschützen sollen: durch Betreuer, Erzieher, Heimleiter. Jahrzehntelang haben viele der von Missbrauch betroffenen ehemaligen Heimkinder geschwiegen. Bis im Jahr 2012 schließlich Bund, Länder und die beiden großen Kirchen den Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ eingerichtet und ehemaligen Heimkindern erstmals flächendeckend Unterstützung und Hilfe zugesagt haben. Dazu wurden regionale Anlauf- und Beratungsstellen eingerichtet mit dem Ziel, die Geschichte der Heimerziehung aufzuarbeiten. In Baden-Württemberg übernahm der Kommunalverband für Jugend und Soziales diese Aufgabe.

Seit Anfang 2012 hat das Beratungsteam mehr als 2.400 Betroffene dabei unterstützt, materielle Hilfen und Rentenersatzleistungen aus dem Fonds zu beantragen, Akteneinsicht zu erhalten oder weitere Hilfen zu erhalten. Vor allem aber haben sie den ehemaligen Missbrauchsopfern ein offenes Ohr geschenkt.

Die Ergebnisse aus der intensiven Aufarbeitungsphase hat die Anlauf- und Beratungsstelle nun zu einem umfangreichen Bericht mit dem Titel „Mehr als Geld und gute Worte“ zusammengefasst, der am Montag (26. November) in Stuttgart in Anwesenheit mehrerer hundert Betroffener der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Leid und Unrecht öffentlich anerkennen und gemeinsam aufarbeiten

„Die umfangreiche Aufarbeitung der Heimerziehung ist das Ergebnis von großem Engagement insbesondere ehemaliger Heimkinder, der Anlauf- und Beratungsstelle und ihres Beirats sowie des Landesarchivs Baden-Württemberg. Seit fast sieben Jahren bringen unterschiedliche Menschen, Träger, Institutionen und Verbände ihr Wissen und ihre Erfahrungen zur Aufarbeitung des Leids und Unrechts ein, das Kindern und Jugendlichen in den Jahren zwischen 1949 und 1975 in den Heimen unseres Landes widerfahren ist“, sagte Sozial- und Integrationsminister Manne Lucha in Stuttgart.

„Uns war es wichtig, den Betroffenen Gehör zu verschaffen und das unermessliche Leid endlich anzuerkennen“, sagt Kristin Schwarz, Verbandsdirektorin des Kommunalverbands für Jugend und Soziales. „Als überörtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben wir großes Interesse an der Aufarbeitung der Ereignisse. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung, dass solche Grenzüberschreitungen, wie sie uns die vielen Betroffenen geschildert haben, nie wieder vorkommen. Und auch wir haben aus der Vergangenheit gelernt: Heute kennen wir die Warnzeichen für Missstände. Mit dem Wissen müssen und werden wir den Schutz von Kindern in Heimen weiter stärken. Das tun wir zum Beispiel in Form von Fortbildungen oder der Entwicklung wirksamer Kinderschutzkonzepte.“

Unterstützung ehemaliger Heimkinder im Land geht weiter

Mit Beendigung des Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ Ende dieses Jahres schließt auch die Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder in Stuttgart ihre Türen. Für Minister Lucha sind der Aufarbeitungsprozess und die Unterstützung ehemaliger Heimkinder damit aber keinesfalls abgeschlossen: „Damit endet nicht die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Und damit endet auch nicht unsere Unterstützung für die ehemaligen Heimkinder. Wir haben beschlossen, ein landesweites unabhängiges Ombudssystem in der Jugendhilfe einzurichten – eine Ombudsstelle, an die sich in Zukunft auch ehemalige Heimkinder wenden können.“ Damit übernehme Baden-Württemberg auch nach Abschluss des Fonds Heimerziehung Verantwortung für den unsäglichen Missbrauch und die Gewalttaten, denen die Kinder ausgesetzt waren. Die wertvollen Erkenntnisse aus dem bisherigen Aufarbeitungsprozess sollen in die Arbeit der Ombudsstelle einfließen.

Lucha: „Ich entschuldige mich für all das Leid und Unrecht, das Sie erlebt haben“

„Mit der Stiftung ,Anerkennung und Hilfe‘ hat inzwischen auch der Prozess der Aufarbeitung des schrecklichen Leids und Unrechts begonnen, das Kindern und Jugendlichen damals in Heimen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien widerfahren ist. Auch hier müssen wir ganz genau zuhören, auch hier müssen wir die Vergangenheit intensiv aufarbeiten. Auch hier müssen wir die richtigen Konsequenzen ziehen. Und auch hier ist ganz klar: Erniedrigung, Demütigung, Misshandlung oder gar Missbrauch dürfen in unserem Land nicht passieren! Wir alle tragen Verantwortung dafür, wir alle sind in der Pflicht“, betonte Lucha weiter.

Im Namen der Landesregierung entschuldigte sich der Sozialminister bei den zahlreichen anwesenden ehemaligen Heimkindern: „Ich entschuldige mich für all das Leid und Unrecht, das Sie erlebt haben und für all die schlimmen Folgen, mit denen Sie heute noch leben müssen. Wir können das, was passiert ist, nicht ungeschehen machen. Was wir aber tun können, ist, Ihnen aufmerksam zuzuhören und Anteil zu nehmen. Wir können öffentlich anerkennen, was damals passiert ist. Ihnen helfen, die Missstände zu benennen und aufzuklären. Ihnen helfen, das Leid – so gut das überhaupt geht – aufzuarbeiten. Die Arbeit der vergangenen Jahre hat uns auch gezeigt, wie wichtig es auch heute ist, unseren Kindern und Jugendlichen zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Das gilt insbesondere für diejenigen, die in Heimen leben oder andere Angebote der Hilfe zur Erziehung wahrnehmen“, so der Minister abschließend.

Ergänzende Informationen

Land und Kommunen beteiligten sich mit insgesamt rund 15,6 Millionen Euro am Fonds
Gemäß den Empfehlungen des Runden Tisches „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den 50-er und 60-er Jahren“ haben Bund, Länder und die beiden großen Kirchen zum 1. Januar 2012 den Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ errichtet. Der Fonds bietet ehemaligen Heimkindern Unterstützung, die während ihres Heimaufenthalts zwischen 1949 und 1975 Misshandlungen erlitten haben und heute noch an den Folgen leiden. Der Fonds wurde ab dem Jahr 2012 zunächst mit 120 Millionen Euro ausgestattet. Im Jahr 2014 wurde er um weitere 182 Millionen Euro aufgestockt. Über die gesamte Fondslaufzeit leisteten das Land und die Kommunen in Baden-Württemberg einen Beitrag zum Fonds in Höhe von insgesamt rund 15,6 Millionen Euro. Aus diesem Fonds konnten Betroffene bis Ende 2014 Leistungen beantragen. In Baden-Württemberg haben 1.846 ehemalige Heimkinder Leistungen aus dem Fonds in Höhe von insgesamt rund 23,3 Millionen Euro erhalten, davon rund 17,8 Millionen Euro für den materiellen Hilfebedarf und rund 5,4 Millionen Euro als Rentenersatzleistung.

Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder in Baden-Württemberg
Verbunden mit der Errichtung des Fonds war die Gründung regionaler Anlauf- und Beratungsstellen für ehemalige Heimkinder mit dem Ziel, die Geschichte der Heimerziehung aufzuarbeiten. In Baden-Württemberg ist die Anlauf- und Beratungsstelle beim Kommunalverband für Jugend und Soziales angegliedert. Seit Anfang 2012 hat das Beratungsteam der Anlauf- und Beratungsstelle in Stuttgart in 2.454 Fällen Betroffene unterstützt, ihren individuellen Hilfebedarf zu ermitteln, materielle Hilfen und Rentenersatzleistungen aus dem Fonds zu beantragen oder weiterführende Stellen aufzusuchen.

Im Schnitt nahm sich die Anlauf- und Beratungsstelle zwischen 1,5 und 2,5 Stunden pro Gespräch Zeit. Nicht wenige Betroffene sprachen in diesem Setting zum ersten Mal über das ihnen widerfahrene Unrecht. Für manche war es nach Jahren der Beginn eines Aufarbeitungsprozesses, für andere ein weiterer Schritt in einer bereits begonnenen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Begleitet wird die Arbeit der Anlauf- und Beratungsstelle durch einen Beirat. Ehemalige Betroffene selbst sind in diesem Beirat vertreten, das Diakonische Werk, die Caritas, die kommunalen Landesverbände, der Kommunalverband für Jugend und Soziales (KVJS), das Landesarchiv und Vertreterinnen des Ministeriums für Soziales und Integration. Aufgabe des Beirats ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Entwicklung der Heimerziehung zu fördern, Informationen über den Fonds zu verbreiten und für Anregungen und Kritik zur Verfügung zu stehen.

Landesarchiv unterstützt Aufarbeitungsprozess
Im Kontext des Aufarbeitungsprozesses hat sich das beim Landesarchiv Baden-Württemberg angesiedelte Projekt „Heimerziehung in Baden-Württemberg zwischen 1949 und 1975“ neben der Erstellung einer Liste mit über 500 Einträgen zu Heimen auch mit der aktiven Unterstützung Betroffener bei der Archivrecherche befasst. Zudem errichtete das Landesarchiv eine Wanderausstellung zur Heimerziehung.

Die Unterstützung ehemaliger Heimkinder geht weiter
Mit Ablauf des Jahres 2018 endet die Fondslaufzeit und damit auch die Arbeit der Anlauf- und Beratungsstelle – nicht aber die Unterstützung für ehemalige Heimkinder. Sozial- und Integrationsminister Manne Lucha sieht die Gesamtgesellschaft in der Verantwortung danach zu fragen, welche Erkenntnisse aus der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft gewonnen wurden und wie diese in der alltäglichen Arbeit berücksichtigt werden können. Dazu soll eine landesweit unabhängige Ombudsstelle eingerichtet werden, an die sich künftig auch ehemalige Heimkinder wenden können.

Bundesweit einmalige Erkenntnisse aus dem Abschlussbericht der Anlauf- und Beratungsstelle
Die Anlauf- und Beratungsstelle Baden-Württemberg hat nun ihren Abschlussbericht mit dem Titel „Mehr als Geld und gute Worte“ vorgelegt. Neben statistischen Angaben etwa zu Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen ehemaliger Heimkinder enthält der Bericht auch Einblicke in die Beratungsgespräche mit Betroffenen.

  • Die Stichprobenauswertung der Anlauf- und Beratungsstelle kommt zu dem Ergebnis, dass 92 Prozent der Betroffenen von körperlicher Gewalt berichteten, 98 Prozent von psychischer Gewalt.
  • Religiösen Zwang erlebten 70 Prozent der Betroffenen.
  • 47 Prozent berichteten von Zwangsernährung.
  • Mit 55 Prozent berichtete über die Hälfte der Betroffenen davon, eingesperrt worden zu sein.
  • Fast zwei Drittel der Betroffenen wurden als Kinder zu Arbeiten herangezogen.
  • Einem Drittel der Betroffenen wurde eine Ausbildung im Heim verweigert, dies betraf überwiegend junge Frauen (63 Prozent).
  • Von den 1.846 Betroffenen, die in Baden-Württemberg Leistungen aus dem Fonds erhielten, berichteten 583
    (31,6 Prozent) von sexualisierten Gewalterfahrungen.
  • Bei den Fällen sexualisierter Gewalt handelte es sich in 369 Fällen (63 Prozent) um männliche und in 214 Fällen (37 Prozent) um weibliche Opfer.
  • In 47 Prozent der Fälle wurde die sexualisierte Gewalt von Betreuungspersonen verübt, in 29 Prozent der Fälle von anderen Heimbewohnerinnen beziehungsweise -bewohnern und in 24 Prozent der Fälle von sonstigen Personen.
  • In 262 Fällen sexualisierter Gewalt konnte die Anlauf- und Beratungsstelle das Geschlecht des Täters bzw. der Täterin feststellen. In 114 Fällen sexualisierter Gewalt handelte es sich bei den Tätern bzw. Täterinnen um Frauen und in 148 Fällen um Männer.