Bilanz

Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen Simone Fischer ein Jahr im Amt

Die Beauftragte der Landesregierung Baden-Württemberg für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Simone Fischer, ist seit einem Jahr im Amt. Sie hat die Funktion im Oktober 2021 in herausfordernder Zeit während der Corona-Pandemie übernommen, ist schließlich mit den Folgen des Krieges in der Ukraine konfrontiert.

Simone Fischer: „Es ist eine sehr bereichernde und schöne Aufgabe, für die selbstverständliche Chance zur Teilhabe, Barrierefreiheit und das Recht auf Selbstbestimmung von Menschen, die mit einer Behinderung leben, zu arbeiten. Zweifellos ist es auch ein herausfordernder Job. Barrierefreiheit und Inklusion von Menschen mit Behinderungen sind keine Selbstläufer. Sie gelingen dann, wenn viele mithelfen. Um gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens herzustellen, konkrete Maßnahmen anzupacken und bestehende Barrieren abzubauen, helfen neben guten Gesetzen, offene Türen und zupackende Hände. Denn wenn wir gute Bedingungen sicherstellen und etwas bewegen wollen, geht das nur gemeinsam.

Ich danke den Menschen mit Behinderungen, dem Ministerpräsidenten, den Ministerinnen und Ministern mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Landesverwaltung, den Landtagsabgeordneten sowie vielen engagierten Kooperationspartnern auf Landesebene und in den Kommunen, die diese Belange unterstützen und Verantwortung übernehmen.

Es bleibt zentral, die verschiedenen Belange mitzudenken, einzubringen und an Lösungen mitzuarbeiten. Gerade bei der Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen im Bauen, beim Wohnen, in der Digitalisierung, bei der Mobilität, im Gesundheitswesen und der Bildung gibt es noch Luft nach oben. Barrierefreiheit ist für viele Personen ein „Must have“, um im Alltag klarzukommen, Besorgungen zu machen, die Kita und Schule am Wohnort zu besuchen, der Arbeit nachzugehen, beim Arztbesuch, beim Sport, im Theater, Kino oder Restaurant, beim Treffen mit Freunden.

So viel Autonomie wie möglich, so viel Sicherheit wie nötig

Die Folgen der Corona-Pandemie haben gezeigt, dass Menschen mit Behinderungen in den – oft eilig – getroffenen Maßnahmen auf vielen Ebenen nicht mitbedacht werden. Vielfach wird über deren Interessen entschieden. Das aktuellste Beispiel ist die Neuregelung des Infektionsschutzgesetzes der Bundesregierung, welches für Menschen, die mit einer Behinderung oder Pflegebedarf in Einrichtungen leben, Maßnahmen trifft, die sie im Verhältnis zum Rest der Gesellschaft gefühlt in die Anfänge der Pandemie katapultieren.

Das Gesetz, das ab 1. Oktober bundesweit gelten soll, sieht eine permanente FFP2-Maskenpflicht für Beschäftigte in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen bei der Ausführung ihrer Tätigkeit vor. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in anderen Betrieben müssen das nicht. Genauso müssen Bewohnerinnen und Bewohner im Pflegeheim und eben auch behinderte Menschen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe eine Maske tragen, sobald sie das eigene Zimmer verlassen und die Gemeinschaftsräume, wie das Wohnzimmer oder die WG-Küche aufsuchen. Menschen mit Behinderungen gehören nicht automatisch zur vulnerablen Gruppe, auch dann nicht, wenn sie in einer Werkstatt arbeiten oder in Einrichtungen leben. Es benötigt unbedingt eine differenzierte Betrachtung.

Menschen mit Behinderungen erleben also weiterhin tiefe Einschnitte in ihrem Lebensalltag und im sozialen Umfeld. Sie haben ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung, auch in Zeiten von Corona. Schon seit Beginn der Pandemie wird gerade diesen Menschen viel abverlangt. Während das neue Gesetz beispielsweise vorsieht, dass im Flugzeug, wo Menschen willkürlich zusammentreffen, keine Maskenpflicht gilt, wird von behinderten Menschen verlangt, die Maske in ihrem Zuhause zu tragen, wo die Bewohnerinnen und Bewohner beständig zusammenleben. Dies ist ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Privatsphäre. Es bleibt abzuwarten, ob hier das letzte Wort gesprochen ist.

Inklusion braucht Begegnung und konkrete Maßnahmen

Im zurückliegenden Jahr habe ich zahlreiche Menschen mit und ohne Behinderungen im ganzen Land getroffen, Besuche und Gespräche vor Ort geführt. Alle eint, dass sie sich wünschen, beachtet und gesehen zu werden. Es muss sichergestellt sein, dass ihre Lebenssituationen mitgedacht sind, damit sie ein gutes Leben führen können. Die Voraussetzungen müssen geschaffen sein, dass Menschen mit Behinderungen selbstverständlich und ungehindert in der Gesellschaft teilhaben können.

Um in den kommenden Jahren Verbesserungen für diese Bevölkerungsgruppe zu erreichen, wurden im grün-schwarzen Koalitionsvertrag der aktuellen Landesregierung zahlreiche Maßnahmen festgelegt, die Ministerien arbeiten an deren Umsetzung. Ich will weiter meinen Teil dazu beitragen, um diese Ziele gemeinsam zu erreichen. Die Belange der Menschen mit Behinderungen selbst spielen für mich die wesentliche Rolle. Sie müssen frühzeitig eingebracht und berücksichtigt sein.

Landes-Aktionsplan zur UN-Behindertenrechtskonvention wird fortgeschrieben

Im Mai 2022 wurde auf Beschluss des Ministerrats veranlasst, dass ein transparenter Beteiligungsprozess für die Fortschreibung des Landes-Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Baden-Württemberg eingesetzt wird. Derzeit werden ein Gesamtkonzept sowie konkrete Schritte und Maßnahmen erarbeitet, um die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen weiter zu verbessern. Die Landes-Beauftragte hat darauf hingewirkt, dass Menschen mit Behinderungen beteiligt sind. Aus der Mitte des Landes-Beirats und weitere Selbstbetroffene wirken in sechs Arbeitsgruppen zu den Themen ‚Wohnen und Arbeit‘, ‚Gesundheit‘, ‚Bildung und Kultur‘, ‚Mobilität‘, ‚Gesellschaftliche Teilhabe und Empowerment‘ sowie ‚Stärkung und Sicherheit von Kindern und Frauen‘ engagiert mit.

Gute Politik für Menschen mit Behinderungen ist eine Aufgabe, die alle Lebensbereiche betrifft. Deshalb ist es zentral, dass dieses Vorhaben ressortübergreifend angelegt ist und alle Ministerien zusammenarbeiten. Die Zwischenergebnisse werden zum Jahresende auf die Online-Beteiligungsplattform des Landes gestellt, damit alle Einwohnerinnen und Einwohner in Baden-Württemberg an diesem Prozess mitwirken und sich mit weiteren Anregungen beteiligen können. Die finalen Ergebnisse werden aufbereitet und sollen im 2. Quartal 2023 vorliegen und beschlossen werden.

Barrierefreiheit, Bildung und Beschäftigung kein Akt der Barmherzigkeit

Bei der Barrierefreiheit handelt es sich um gesetzlich verankerte Ansprüche, keinen Akt der Gnade und Barmherzigkeit. Sie ist Grundlage von Teilhabe und Qualitätsmerkmal eines generationengerechten, menschlichen und zeitgemäßen Zusammenlebens. Wir brauchen eine in jeder Hinsicht barrierefreie Gesellschaft, um die Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam zu meistern. Wenn sie bei der Planung, den Gemeinderatsbeschlüssen bis hin zur Umsetzung von Beginn an konsequent mitgedacht wird, schlägt sie im Verhältnis gesehen auf der Kostenseite kaum zu Buche, spätere Nachrüstungen hingegen schon. Dies bestätigen auch Studien des Deutschen Städte- und Gemeindebundes.

Aus der Praxis wird berichtet, dass fertige Bauwerke nicht immer den gesetzlichen Anforderungen genügen. In Deutschland fehlen neben bezahlbaren zudem Millionen von barrierefreien Wohnungen. Sie sind Grundvoraussetzung, damit eine älterwerdende Gesellschaft, pflegebedürftige oder behinderte Menschen in ihrem Wohnumfeld verbleiben können. Neben Förderprogrammen des Ministeriums für Landesentwicklung und Wohnen und des Sozialministeriums wird unter anderem das Landeskompetenzzentrum Barrierefreiheit, welches in Kürze seine Arbeit aufnimmt, einen zentralen Beitrag zum Wissens- und Qualitätsmanagement leisten.

Inklusion ist ein gesellschaftlicher Zustand, in dem alle Menschen in der Gesellschaft die gleichen Chancen zur persönlichen Entwicklung haben, die gleichen Zugangsmöglichkeiten beispielsweise zu Bildungsangeboten, zum Arbeitsmarkt, zu kulturellen Angeboten, zum Öffentlichen Personennahverkehr – also zu allen Einrichtungen und Angeboten, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Dies betrifft alle Lebensbereiche. Die UN-Behindertenrechtskonvention, deren Inhalt auf europäische Gesetze und Verordnungen sowie die des Bundes und der Länder Einklang finden, unter anderem das Landes-Behindertengleichstellungsgesetz, das Landesmobilitätsgesetz, die Landesbauordnung, diverse Ausbildungsverordnungen, das Schulgesetz oder Kindertagesbetreuungsgesetz.

Gemeinsam aufwachsen, spielen und lernen von Anfang an

Damit Kinder gemeinsam aufwachsen, spielen und lernen können, benötigen sie gute Rahmenbedingungen in Freizeit, Kita und Schule. Um die inklusiven Angebote an den Schulen in Baden-Württemberg zunehmend auszubauen, erhöht das Land mit dem neuen Studiengang „Lehramt Sonderpädagogik“ an der Pädagogischen Hochschule Freiburg die bisherigen Kapazitäten um ein Drittel. Mit insgesamt 175 Studienanfängerplätzen nehmen die ersten Studierenden in Freiburg zum Wintersemester 2023/2024 das Studium auf. Gleichzeitig hat das Land bereits verschiedene Maßnahmen aufgesetzt, um kurzfristig auf den Bedarf von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen an die Schulen zu bringen.

Behinderte Kinder und ihre Familien berichten, dass ihnen vielerorts immer noch viel zugemutet wird, wenn sie Entlastungsangebote benötigen, die Kita oder Schule am Wohnort besuchen wollen. Die Aufnahme wird verwehrt oder Betreuungszeiten gekürzt, so dass bei Personalengpässen behinderte Kinder nicht in die Kita oder Schule kommen dürfen. Zudem gestaltet sich die Umsetzung der Unterstützungsleistungen, wie beispielsweise der Einsatz einer Inklusionskraft, nicht immer reibungslos. Dort, wo nötig, erhalten behinderte Kinder dem Grunde nach Assistenz. Häufig werden Eltern hinsichtlich der Organisation allein gelassen, so dass im Vertretungsfall Kinder behindert werden, weil sie ohne die Begleitung die Kita oder Schule nicht besuchen dürfen. Dies ist nicht akzeptabel, denn sie sind Kita- und Schulkind, wie jedes Kind. Anspruch und Ziel bleibt, dass die Voraussetzungen geschaffen sind, dass diese Kinder die Kita und Schule am Wohnort besuchen können, unabhängig von Behinderungen.

Die Praxiserfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass ein Gelingensfaktor der Inklusion eine positive Wechselseitigkeit im Fachkraft-Kind-Schlüssel und für bestimmte Behinderungsarten die effektive Größe der Gruppe ist. Aus der Praxis wird zurückgemeldet, dass in an die Obergrenze ausgelastete Gruppen, betrieben mit einem Mindestpersonalschlüssel, die Möglichkeiten individueller Begleitung und Förderung deutlich eingeschränkt sind, für alle Kinder. Für jedes Kind, unabhängig von seiner Entwicklung, mit oder ohne Behinderungen, stellt es eine Herausforderung dar, sich in einer hohen Gruppenstärke zu orientieren, seinen Platz zu finden, teilzuhaben und sich einzubringen.

Erfolgreiche Kita-Träger haben in der Vergangenheit Platzzahlen flexibel gestaltet, zeitweise reduziert, wenn sie ein Kind mit Behinderungen aufgenommen haben. Relevanz für die Qualität erhält eine Gruppengröße auch mit der Zahl der pädagogischen Fachkräfte. Sie haben Inklusionskräfte als Träger selbst oder in Kooperation mit anderen Trägern angestellt und somit bessere Voraussetzungen für deren Einsatz geschaffen. Die Kita ist der erste öffentliche Raum, an dem ein Kind gesellschaftliche Teilhabe erfährt. Organisations- oder Personalmangel vor Ort dürfen nicht dazu führen, dass Inklusion ausgebremst wird.

Familien, in denen schwerstbehinderte Kinder oder Angehörige leben, erfahren vielfach große Belastungen bei der medizinischen und pflegerischen Grundversorgung. Für sie ist der Alltag mit vielen Hürden, Bürokratie und der Suche nach Entlastungsangeboten erschwert, wenn sie sich beispielsweise immer wieder mit Ärzten, Behörden, Kranken- und Pflegekassen, Pflegediensten, Therapeuten und Hilfsmittelanbietern auseinandersetzen müssen. Grundsätzlich gibt es schon gute Leistungs- und Unterstützungsangebote, sie müssen allerdings niederschwellig, zugewandt, unbürokratisch und proaktiv zu den Familien kommen. Angehörige leisten Beachtliches in der Betreuung, Förderung und Pflege ihrer Kinder zuhause. Die Folgen der Pandemie fordern sie heute immer noch in starkem Ausmaß.

Chance zur Fachkräftesicherung und Gewinnung – wer integriert, profitiert

Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist für schwerbehinderte Beschäftigte weiterhin schwieriger, als für andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, obwohl private und öffentliche Arbeitgeber mit jahresdurchschnittlich monatlich mindestens 20 Arbeitsplätzen nach § 154 Absatz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch verpflichtet sind, auf mindestens 5 Prozent ihrer Arbeitsplätze schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Rund ein Viertel dieser Firmen, die beschäftigungspflichtig sind, beschäftigen nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales keinen einzigen schwerbehinderten Menschen. Sie zahlen eine Geldstrafe oder lagern Aufträge in Werkstätten aus, anstatt dieser Verantwortung nachzukommen. Dadurch fehlt wichtige Expertise im Handwerk, der Wirtschaft, in Führungspositionen, der Politik und unseren Verwaltungen. Und uns fehlen Vorbilder, die zeigen, was alles möglich ist.

Schwer wiegt freilich, dass das Land als Arbeitgeber die Beschäftigungsquote nicht mehr erfüllt und diese weiter rückläufig ist. Der Landtag hat bereits Mittel zur Verfügung gestellt, um dieser Entwicklung entgegenzutreten. Damit müssen jetzt die Voraussetzungen geschaffen werden und schwerbehinderte Menschen ein gutes Beschäftigungsangebot erhalten. Sie sind wertvolle Fachkräfte. Inklusion ist eine Chance zur Fachkräftesicherung und deren Gewinnung. Wer integriert, profitiert. Eine inklusive und durchlässige Arbeitswelt ist ein sichtbares Zeichen für gute und sichere Arbeit, soziale Verantwortung der Arbeitgeber und einer modernen Unternehmenskultur.

Wir verdienen allgemein mehr Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Dort, wo Entscheidungsträger offen sind oder finanzielle Unterstützungsmöglichkeiten, wie das Budget für Arbeit und andere Förderprogramme kennen und nutzen, gelingt Beschäftigung. Sie ist schließlich ein Gewinn für beide Seiten. Aufrichtiges Interesse, eine proaktive Willkommenskultur für Menschen mit Behinderungen und professionelle Herangehensweise sind wichtige Schlüssel.

Gesundheitsversorgung barrierefrei und inklusiv

Nach Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen haben Menschen mit Behinderungen uneingeschränkte Rechte auf ihre gesundheitliche Versorgung, wie Menschen ohne Behinderungen. Allerdings sind nicht alle Angebote der gesundheitlichen Versorgung für behinderte Kinder und Erwachsene zugänglich. Dies wird aus Schilderungen von Betroffenen selbst und ihren Angehörigen deutlich, die regelmäßig herangetragen werden: Ein Kernpunkt der immer wieder berichteten schwierigen Zugänge ist beispielsweise der Übergang vom Kindes- und Jugendalter, mit der Zuständigkeit von niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten sowie den Sozialpsychiatrischen Zentren bis zum Alter von 18 Jahren, in die Erwachsenenmedizin. Die jungen Erwachsenen dürfen über das 18. Lebensjahr hinaus nicht von den Fachärzten und ihren Teams aus ihren Kinder- und Jugendzeiten weiter versorgt werden.

Von Erwachsenen mit Behinderungen aber auch seitens der Ärzte und Pflege, wird vielfach beschrieben, dass die alltägliche medizinische Versorgung, zum Beispiel bei Beratungs-, Untersuchungs- und Behandlungsbedarf im Zusammenhang mit Krebsvorsorge, Impfungen, schon das Anpassen von Brillen, Hörhilfen und anderen Hilfsmitteln oder Empfängnisverhütung, bei Frauen auch Menstruationsbeschwerden, gynäkologische Untersuchungen bis zur Geburtshilfe eine große Hürde darstellt. Oft müssen viele Telefonate geführt und sehr weite Anfahrtswegen in Kauf genommen werden, um eine Praxis oder ein Versorgungszentrum zu finden, die diese Patientinnen und Patienten annehmen. Hausärzte und Fachärzte ihrerseits sind im Umgang mit Menschen mit behinderungsbedingten, kognitiven und kommunikativen Einschränkungen meist nicht vertraut. Die Situation von Menschen mit Behinderungen muss einen Stellenwert einnehmen. Am 24. November 2022 findet deshalb auf meine Initiative eine Veranstaltung im Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle in Stuttgart statt. Sie soll einen Erfahrungsaustausch mit Menschen mit Behinderungen, Angehörigen, dem Gesundheitsminister, der Ärzteschaft, den Gesundheitskassen, dem Gesundheitswesen, Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Wissenschaft ermöglichen.

Bundesteilhabegesetz braucht mehr Tempo und zeitgemäße Angebote

Bei der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes, das die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen verbessern soll, müssen wir in Baden-Württemberg weiter vorangehen. Die Verbesserungen, die das Gesetz mit sich bringt, müssen nun endlich bei ihnen direkt ankommen.

Nachdem die Stadt- und Landkreise als Träger der Eingliederungshilfe mit den Leistungserbringern im Jahr 2020 einen Landesrahmenvertrag gemäß § 131 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch geschlossen haben, wurde zunächst eine Übergangsvereinbarung zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in Baden-Württemberg für die Jahre 2020 und 2021 abgeschlossen. Bereits 2021 wurden keine bedeutsamen Fortschritte erzielt, so dass sich eine weitere Übergangsregelung für die Jahre 2022 und 2023 angeschlossen hat. Zum 31. Dezember 2022 müssen nun für alle Einrichtungen in Baden-Württemberg Aufforderungen zu Verhandlungen über die Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen vorliegen. Denn bis spätestens 31. Dezember 2023 sind die Einrichtungen, Angebote und Dienste auch tatsächlich auf das neue System umgestellt. Das heißt, es ist allerhöchste Zeit, zu Verhandlungen aufzufordern bzw. die Aufforderungen anzunehmen und Vereinbarungen personenzentriert im Geiste des Bundesteilhabegesetzes und auf Grundlage des Landesrahmenvertrages abzuschließen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Interessen der Menschen mit Behinderungen, die rechtssichere Lösungen erwarten. Weitere Verzögerungen können sie nicht hinnehmen.

Die Einwohnerinnen und Einwohner mit Behinderungen in Baden-Württemberg setzen große Hoffnungen in ihre Stadt- und Landkreise, Reha-Träger und Leistungserbringer, die Einrichtungen, Anbieter und Dienste der Eingliederungshilfe, das Land und die Interessenvertretung. Sie bauen darauf, dass die Anforderungen, die das Bundesteilhabegesetz stellt, in ihrem Sinne vorangebracht und ernsthaft umgesetzt werden, damit sie ein gutes Leben führen können.

Das Bundesteilhabegesetz schafft keine Sonderrechte für einzelne Gruppen, es konkretisiert die jedem Menschen zustehenden Rechte, um gleichberechtigt in der Gesellschaft zu leben. Dazu gehört, dass nicht nur die Grundbedürfnisse gestillt sind. Soziale Beziehungen, Unternehmungen, Wertschätzung, Selbstverwirklichung und individuelle Teilhabe gehören zu einem erfüllten Leben und persönlichen Wohlbefinden. Sie sind für jeden von uns von Bedeutung.

Menschen, die mit einer Behinderung leben, haben genauso das Recht, auf individuelle Teilhabe, wie jeder Mensch sowie zeitgemäße Assistenz, unabhängig davon, wo sie wohnen oder arbeiten. Insbesondere Menschen, die in einer besonderen Wohnform leben, erfahren nicht selbstverständlich Bedingungen, die darauf ausgerichtet sind. Sie brauchen gut ausgebildetes Personal, das gerne mit ihnen zusammenarbeitet und Zeit für sie hat. Viele Menschen, die in Einrichtungen leben, beklagen zu Recht, wenn sie dies nicht finden. Jede fehlende Fachkraft wirkt sich darauf aus.

Eine Studie der TU Darmstadt aus dem Jahr 2021 kommt zu dem Ergebnis, dass es bundesweit in der Behindertenhilfe einen akuten Mangel an Fachkräften gibt, auch in Baden-Württemberg mussten bereits Gruppen zusammengelegt werden und ganze Einrichtungen schließen. Auch wenn Einrichtungen und Werkstätten der Eingliederungshilfe eigentlich ein sicheres und geschütztes Lebens- und Arbeitsumfeld bieten müssen, zeigen Studien, wie unter anderem der Forschungsbericht vom Institut für empirische Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vom November 2021, dass die Realität häufig anders aussieht. Die Bewohnerinnen und Bewohner sowie Werkstattbeschäftigten empfinden ihr Leben oft als fremdbestimmt und erleben unterschiedliche Formen von Gewalt.

Die gesellschaftliche Transformation muss auch in der Behindertenhilfe mit Leben gefüllt werden. Eine moderne Ausrichtung, inklusive Strukturen innerhalb der Einrichtungen und Angebote sowie Kooperationen mit anderen Anbietern und der Zivilgesellschaft tragen dazu bei, dass sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen für alle verbessern. Auch dabei ist die gewissenhafte Beteiligung der Bewohnerinnen und Bewohner das A und O.

Es ist von Bedeutung, Formen der Unterstützung, wie tagesstrukturierende Angebote und den Ausbau von Assistenzleistungen und Persönlichen Budgets außerhalb von Einrichtungen im Blick zu haben. Aufsuchende oder häusliche Angebote werden vor allem von behinderten Menschen in Anspruch genommen, die in einer eigenen Wohnung, in Wohngemeinschaften, Gastfamilien, mit Angehörigen oder im Generationenwohnen leben. Diese sind fortschrittlich und werden in Hinblick auf Selbstbestimmung und Teilhabe aller Voraussicht nach künftig noch stärker nachgefragt. Menschen mit Behinderungen dürfen darauf vertrauen, dass sie die ihnen „zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise umfassend und zügig“ (§ 17 Sozialgesetzbuch Erstes Buch) erhalten.

Beteiligung schafft Gesellschaft. Einfach Inklusion.

So lautet das Motto dieser Amtszeit. Denn Menschen mit Behinderungen müssen beteiligt sein und die Möglichkeit haben, ihr Lebensumfeld und unsere Gesellschaft mitzugestalten, um Verbesserungen zu erreichen. Der Landes-Beirat für die Belange von Menschen mit Behinderungen wurde unter meinem Vorsitz für die Legislaturperiode des Landtags neu konstituiert. Er besteht aus Selbstvertreterinnen und Selbstvertretern mit unterschiedlichen Behinderungen bzw. deren Verbände, begleitet und unterstützt die Arbeit jeder Landes-Beauftragten, um die diversen Belange sichtbar zu machen. Denn, was für den einen barrierefrei bedeutet, kann für den anderen ein unüberwindbares Hindernis sein.

Mit einem neuen Podcast, der mit Untertitel und Gebärdensprache erscheint, unterschiedlichen Veranstaltungsformaten, verstärkter Pressearbeit und Social Media werden verschiedene Wege genutzt, um neben der Ombudstätigkeit, den Stellungnahmen zu Gesetzgebungs- und Verordnungsvorhaben sowie in Gremien darauf hinzuwirken, dass die Verpflichtung des Landes, für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfüllt wird. Dies bietet unterschiedlichen Themen zu Behinderungen eine Plattform, um auf die Lebenswelten aufmerksam zu machen, zu zeigen, wie Teilhabe gelingen kann und Barrierefreiheit möglich ist oder auch den Finger in die Wunde zu legen.

Damit gleichberechtigte Teilhabe selbstverständlich und von allen getragen ist, liegt ein Fokus auf der Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen und der Öffentlichkeitsarbeit. Wir benötigen mehr Repräsentanz von Menschen, die mit einer Behinderung leben – im Land, in den Landkreisen, Städten und Gemeinden, in Firmen und auf Arbeitsplätzen, in der Politik, bei Veranstaltungen, auf Podien und im Alltag.

Ich sehe mit Sorge, wenn über Inklusion geredet wird, sich aber gleichzeitig Sonderstrukturen weiter festigen oder der Ruf danach wieder zunimmt. Wenn uns Inklusion in Kita und Schule nicht gelingt, ist die Folge die Trennung der Gesellschaft in Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen. Dass Isolation unmenschlich sein kann, hat die Auswirkung der Corona-Pandemie deutlich gemacht.

Uneingeschränkt alle mitzudenken, ist ein Erfordernis, das in der Umsetzung gewiss nicht immer leicht ist. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass Begegnung ein erfolgreiches Rezept ist, um bauliche, inhaltliche, technische und menschliche Barrieren abzubauen. Es ist entscheidend, dass Menschen mit Behinderungen sichtbar sind und sich einbringen können, um Selbstverständlichkeit zu erreichen. Ich wünsche mir sehr, dass es künftig wieder möglich ist, Gelegenheiten und Räume für Begegnung zu finden, damit wir bei der Teilhabe und Beteiligung von Menschen mit Behinderungen keine Rückschritte machen, sondern weiter vorankommen.

Damit das möglich ist, benötigen wir Verbündete, die offen sind, Notwendigkeiten erkennen und sich mit uns dafür einsetzen, Barrierefreiheit und gute Lebensbedingungen für alle zu schaffen.

Hintergrund:

Bereits vor 13 Jahren, am 26. März 2009, hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen unterschrieben. Sie verpflichtet alle staatlichen Ebenen und die Gesellschaft dazu, gezielte Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen, ihre Rechte und Pflichten gleichberechtigt mit anderen in Anspruch nehmen zu können.

In Baden-Württemberg lebten Ende 2021 insgesamt 957.415 Menschen mit einem Schwerbehindertenausweis, davon sind 490.300 männlich, 467.115 weiblich. Dies sind rund zehn Prozent der Bevölkerung. Mehr als 93 Prozent gehen auf eine Krankheit zurück. Bei 3,6 Prozent handelt es sich um eine angeborene Behinderung, bei 1,6 Prozent gilt ein Unfall als Ursache. (Quelle: Schwerbehinderte Menschen nach Strukturmerkmalen (statistik-bw.de))

Informationen und Eindrücke zu den Besuchen von Simone Fischer vor Ort

Informationen zum Landes-Beirat für die Belange von Menschen mit Behinderungen

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